Du hattest Dir diesen Brief als Weihnachtsgeschenk gewünscht.
Brief Marianne an Ulrich Bach
Gevelsberg am 09.12.08
Lieber Ulrich!
Du hast mich vor ein paar Tagen gefragt, wann ich angefangen habe meinen Bericht zu schreiben und warum.
Ende 1985 ging es mit meinem Laufen immer schlechter. Ich hatte große Mühe meinen Arbeitsplatz zu erreichen und die Arbeit fiel mir von Tag zu Tag schwerer. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zu einem Orthopäden nach Hagen. Dr. Kupsta untersuchte meine Hüften und war entsetzt in was für einen schlechten Zustand ich war. Er sagte zu mir: Es ist mir ein Rätsel, wie sie noch mit dieser Hüfte laufen können. Jede Bewegung bereitete mir große Schmerzen. Manchmal passierte es, beim Aufstehen, oder wenn ich mich im Bett drehen wollte, oder von der Toilette aufstand, daß mir die Hüfte aus der Pfanne sprang. Das war immer mit sehr großen Schmerzen verbunden. Dr. Kupsta wollte noch wissen warum mein rechtes Bein so schwach sei. Ich erzählte ihm das ich bis zu meinem 10 Lebensjahr eine Schiene trug und sie von einem Tag auf den andern abgenommen bekam und das war es dann auch. Er war entsetzt als er erfuhr, daß an diesem Bein nie eine Therapie durchgeführt wurde um es zu stärken. Sein Kommentar dazu war: Da hat man sich aber kräftig an ihnen versündigt. Ich habe ihn darauf geantwortet: Nicht nur da!
Mir blieb nichts anderes übrig mich mit 36 Jahren einer Operation zu unterziehen. Ich brauchte dringend eine neue Hüfte mit Erkeranbau. Dr. Kupsta machte mich darauf aufinerksam, daß das eine sehr schwere Operation sei. Mich überkam Panik als er mir vorschlug, die Operation in Volmarstein machen zu lassen. Ich konnte und wollte nicht dahin gehen, wo es Ärzte gab die mir in meiner Kindheit nur Angst eingejagt haben. Noch heute habe ich Schwierigkeiten einen Arzt aufzusuchen.
(Dr. Mxxxxx war nur ein Knochendoktor. Dem ist nie in den Sinn gekommen zu fragen, wie es in meiner verängstigten Kinderseele ausgesehen hat. Ich bekam immer Panik, wenn er und auch Dr. Kxxxxxxx zu uns Kinder ins JHH kamen. Beide führten sich auf wie die Herrgötter in Weiß. Ich bekomme noch heute ein mulmiges Gefühl, wenn mir Dr. Mxxxxxxx über den Weg läuft. Ich kenne kein Kind, daß sich gefreut hat, wenn die Beiden zu uns ins JHH kamen. Ich selber habe gesehen, wie Dr. Kxxxxxxx Klaus einen Stapel Schulhefte auf den Kopf geknallt hat, und das waren nicht die einzigen Entgleisungen).
Mit Hilfe von Dr. Kupsta haben wie dann ein gutes Krankenhaus in Dortmund gefunden. Ich bin immer noch der Meinung, daß sie ein Wunder vollbracht haben, auch wenn ich mit Schrauben und Drähte in meinem Körper herumlaufen muß.
Als mir bewußt wurde, daß ich eine schwere Operation vor mir hatte, versuchte ich mein Leben zu ordnen. Als erstes machte ich ein Testament. Viel gab es da nicht zu vererben. Ich wollte aber, daß meine Teddybären (einige sind wertvoll) an ein Kinderdorf gehen sollten. Von diesen Einrichtungen war ich immer fasziniert. Noch wichtiger war es aber für mich meine schlimmen Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Bis da hatte kaum ein Mensch von mir Notiz genommen. Die ESV wollte von meiner Geschichte schon gar nichts wissen. Sehr oft habe ich mit Frau Lotze und auch Pastor Lotze geredet. Frau Lotze hat mir zugehört und war wirklich entsetzt. Pastor Lotze sagte zu mir: Ja ich weiß, daß es so war, aber wir dürfen dem Ruf der Anstalten nicht schaden. Kaum einer nahm darauf Rücksicht, wie mir zu Mute war. Es haben viele gewußt. Dazu zähle ich auch Pastor Bxxxx und den Psychologen
Herrn Lxxxx. Keiner von denen ist auf die Idee gekommen die Leute zu verklagen, die dieses Unrecht begangen haben. Damals hätte man die Leute noch zur Rechenschaft ziehen können. Ich selber hatte keine Kraft und auch nicht die Möglichkeit. Ich hatte große Mühe meine eigene Existenz und Zukunft aufzubauen. Mit 36 Jahren hatte ich es fast geschafft, da machte mir mein kaputter Körper einen Strich durch die Rechnung. Da die Operationstermine dreimal verschoben wurden, daß war eine warnsinnige Belastung, hatte ich Zeit meine Geschichte zu schreiben. Ich wollte, daß die Nachwelt von meiner Kindheitsgeschichte erfährt. Ich wünschte mir so sehr, daß dieses Unrecht anerkannt wird.
Frau Hoffmann, ich war gerade 17 Jahre alt, war die Erste, der ich diese Geschichte erzählt habe. Sie sagte immer wieder, wenn wir darüber sprachen, „ich habe das Gefühl du bist im Mittelalter groß geworden. Danach wollte kein Mensch etwas davon wissen. Egal wie es mir dabei ging.
Dann wurde ich 1989 von Dir zur Silbernen Konfirmation eingeladen. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und die Einladung angenommen. Es waren doch einige von damals dabei. Nach langen Jahren traf ich Dich wieder. Nachmittags gab es Kaffee und Kuchen im Martineum. Die Runde war klein und überschaubar. Plötzlich fingen einige um mich herum aus der Kindheit im JHH zu erzählen an. Roswitha schubste mich an und sagte: Erzähl du auch einmal etwas, du hast ja schließlich am meisten unter diesen Schwestern gelitten. Ich sehe immer noch Dein erstauntes Gesicht vor mir, mit der Frage: Warum habe ich davon nichts gewußt? Wie die Geschichte weiter gegangen ist weißt Du ja. Bevor ich nach Gevelsberg zog, war ich froh, daß ich zwei Nachmittage zu Dir kommen konnte, um Dir mit schonungsloser Offenheit alles von damals zu erzählen. Mir hat es leid getan, Dir diese harte Kost vorzusetzen. Du warst der Erste der raufrichtig Anteilnahme zeigte. Ich sehe uns beide noch weinend da sitzen.
Mir hat es auch gut getan, daß Du bei Deiner Verabschiedung in den Ruhestand auf meine Geschichte aufmerksam gemacht hast. Deine Entschuldigung war ehrlich gemeint. Du hast zugegeben, daß Du damals im Konfirmationsunterricht nicht richtig zugehört hast, als ich all meinen Mut zusammennahm und erzählte, daß bei uns geprügelt wird. Das rechne ich Dir hoch an. Wer gibt schon gerne zu, daß er einen Fehler macht. Diesen Tag hättest Du viel freundlicher verbringen können. Danke, daß Du den Mut hattest.
Später, als ich mir einen Computer in Gevelsberg zulegte, fing ich an meine Geschichte richtig aufzuschreiben. Jede Seite war eine Qual. Als ich damit fertig war, laß ich die Geschichte noch einmal durch, dachte, daß arme Kind und legte sie für lange Zeit in die Schublade. Ich öffnete die Schublade erst wieder als Dein Anruf kam. Du teiltest mir mit, daß Peter Winserski ein Buch über die Mißstände in der Heimerziehung von 1945-1970 geschrieben hatte und in der UK ein Artikel darüber stand. Helmut schrieb daraufhin einen Leserbrief in der UK und Du hast mir ihn dann geschickt. Ich laß diesen Bericht zufällig in der Arztpraxis und es zog mir sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weg. Mein Hausarzt riet mir dringendst, nach diesem Vorfall, eine Psychotherapie zu machen. Mit meiner Psychologin, Frau Deppe, habe ich großes Glück. Sie kam auch auf die Idee, einen Antrag auf Opferentschädigung zu stellen. Mir war es aber eher erst wichtiger, daß dieses erlittene Unrecht anerkannt wird. Heute wirft man uns vor, wir wollen Geld schinden. Geschieht da nicht wieder neues Unrecht?
Gestern rief mich Frau xxxxxx an. Sie erzählte mir, daß sie auf der Weihnachtsfeier in der ESV war. Viele sprachen über den letzten Zeitungsartikel. Dr. Mxxxx kam auch dazu. xxxx xxxxxxxx In einem Bericht, auf der Homepage, soll sogar gestanden haben, daß er ein Satan gewesen sei. Der Name war nicht ausgeschrieben, aber jeder würde doch merken, daß er damit gemeint sei. Die meisten Anwesenden hatten überhaupt nichts mit dem JHH zu tun, aber sie fühlten sich angegriffen, weil sie ja in dieser Einrichtung einmal
gearbeitet haben. Fast alle waren der Meinung, unsere Gruppe wolle sich nur bereichern.
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Soll ich mich jetzt schämen, daß ich eine Opferschutzrente bekomme? Mich macht das ganze nur noch traurig. Haben die Leute immer noch nicht begriffen, daß es uns hauptsächlich um die Anerkennung und eine vernünftige Entschuldigung geht? Kein Mensch von denen kommt auf die Idee zu fragen, wie geht es dir damit und was hat das für Folgen für dich? Ich frage mich, wie diese Menschen noch Weihnachten feiern können.
Ulrich, warum machen mir diese Leute ein schlechtes Gewissen, wenn ich eine Entschädigung erhalte? Habe ich Schuld an dem was da im JHH geschehen ist?
Du hattest Dir diesen Brief als Weihnachtsgeschenk gewünscht. Leider ist er nicht sehr schön ausgefallen.
Ich wünsch Dir alles Gute, vor allem aber eine gute Gesundheit mit weniger Schmerzen. Grüße Deine Frau lieb von mir.
Liebe Grüße sendet Dir
Deine Marianne