Bach: "Station vier" - ein kritisches Gedicht über die Heimunterbringung behinderter Frauen 1977

Veröffentlicht auf von Helmut Jacob

1977, zwei Wochen vor Ostern

  Manchmal schrecke ich auf in der Nacht, und ich denke an Station vier.

 Dann liege ich in unserem Schlafzimmer. Klar, wo denn sonst? Natürlich gehört zu unserer Wohnung auch eine Küche, ein Wohnzimmer, eine Mansarde für die Gäste. Und die Kinder haben jeder ein Zimmer für sich. Wir können’s uns leisten; ich verdiene nicht schlecht. Und zu üppig ist das ja auch wieder nicht.

 Manchmal schrecke ich auf in der Nacht, und ich denke an Station vier.

 Dort leben Frauen, die so schwer behindert sind, daß sie keinen Beruf erlernen konnten. Sie verdienen nichts. Sie kosten einiges. Die öffentliche Hand zahlt, damit sie nicht umkommen. Sie wohnen zu dritt auf einem Zimmer oder zu fünft. Ein Zimmer für fünf, und das seit zwanzig Jahren oder auch seit achtunddreißig. Und dieses Zimmer ist zugleich Schlafzimmer und Wohnraum, Eßzimmer und Besuchsraum, für manche auch Klo. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dort ist noch niemand erfroren, noch niemand verhungert. Ein Hoch auf den Sozialstaat!

 Manchmal schrecke ich auf in der Nacht, und ich denke an Station vier.

 Die Frage ist doch: Muß das so sein? Mit welchem Recht rechnen wir so: Einer verdient und kann es sich leisten: fünf Zimmer für vier. Ein anderer verdient nichts und verdient damit das: ein Zimmer für fünf, zwei Schränke für drei? - „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“, sagt unser Grundgesetz. Allenfalls zulässig, verstehen Sie, also nicht unbedingt nötig; nicht einmal dann, wenn das Wohl der Allgemeinheit es erforderte. Nur ruhig denn: Es wird dabei bleiben: wir behalten unsere Wohnungen, Sie und ich; und die Damen auf Station vier wollen uns - bitte schön - nicht böse sein, nein.

Manchmal schrecke ich auf in der Nacht, und ich denke an Station vier.

 Ich frage dann weiter: Müßten die Kirchen nicht laut protestieren? Sie halten doch einiges von dem, der die Verstoßenen Gottes Kinder nannte. Ist es nicht an der Zeit, sie wenigstens leben zu lassen, wie wir unsere eigenen Kinder leben ließen? Wo bleibt da die Kirche? Wo bleibt ihr Protest? - Und dann fällt es mir ein: Sie hat ja protestiert. Es stand in der Zeitung, zwei Wochen vor Ostern: In Bonn kam man zusammen zu einer Protestkundgebung. Angesichts neuer Gesetzesentwürfe fürchtete man um den Bestand der kirchlichen Einrichtungen. Wer könnte da schweigen! Der Staat muß dafür sorgen, daß auch in Zukunft die Kirche Einfluß behält im Bereich der Krankenversorgung. So sagte der Bischof. Und er fügte hinzu: Die Kirchen stehen zum Kampfe bereit.

 Manchmal schrecke ich auf in der Nacht, und ich denke an Station vier.

 Ich stelle mir vor: Das Ende der Welt. Unser Heiland kommt wieder und fragt uns, was wir denn getan haben für seine Geschwister, und auch, was wir ihnen nicht getan haben. Ich höre uns antworten: Herr, wir haben dafür gekämpft, daß Station vier in kirchlicher Trägerschaft blieb. Vielleicht wird er dann fragen: Bekam also dort jeder ein Zimmer für sich? Und wir können nur antworten: 0 nein, Herr, das nicht; aber wir kämpften, und das mit Erfolg, wir kämpften um den kirchlichen Einfluß, das schien uns das Wichtigste. - Was eigentlich werden wir sagen, sollte er fragen: Und meine Schwestern in eurem Hause, war das auch für sie das Wichtigste?

 Manchmal schrecke ich auf in der Nacht, und ich denke an Station vier.


Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors entnommen aus: Ulrich Bach, Volmarsteiner Rasiertexte. Notizen eines Rollstuhlfahrers, Schriftenmissionsverlag Gladbeck, jetzt Neukirchen, 1979, 2. Auflage 1981, Seite 32 - 34.
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